Spuren

We are all just walking each other home.

Ram Dass

Wir standen an der Lichtung im Wald, mit Blick auf Köln in der Ferne. Meine Freundin und ich wollten uns eigentlich schon längst verabschiedet haben, aber irgendwie hat es uns doch noch zusammengehalten – wahrscheinlich, weil die letzten Sätze, die wir miteinander geteilt haben, so wichtig für uns waren. Es hatte sich mal wieder dieses Gefühl bei ihr angeschlichen, das wir beide nur zu gut kennen. Da ist diese ganz bestimmte Mischung aus Wärme und Schwere, die sich manchmal in uns breitmacht, wenn wir an „Sie“ denken. Sie, das sind die Menschen, mit denen wir uns mal so verbunden gefühlt haben und es irgendwie auch immer noch sind. Alte Lieben und welche, die es vielleicht mal hätten werden können. Freundinnen und Freunde, die uns mal die Welt bedeutet haben und unglaublich viele Momente mit uns geteilt haben. Die Schönen und auch die ganz Schweren, die besonders fest zusammenschweißen. Doch inzwischen sind nicht nur all diese Momente, sondern auch diese Menschen selbst längst zu Erinnerungen geworden. Auf unserem gemeinsamen Weg kam irgendwann der Punkt, an dem wir uns leise eingestehen mussten, dass wir einfach nicht mehr gemeinsam weiterlaufen können. Dass wir unterschiedliche Dinge möchten und andere Weggabelungen nehmen müssen. Dass wir uns gegenseitig ausbremsen und uns manchmal sogar wehtun, auch wenn wir das eigentlich gar nicht wollen. Also haben wir uns gehen lassen, auch wenn das alles andere als leicht war. Doch selbst wenn ihr heute nicht mehr Teil meines Lebens seid, seid ihr trotzdem immer noch ein Teil von mir. Ihr habt eure Spuren in mir hinterlassen, wie kleine feine Maserungen in der Rinde eines Baumes. Und genau das spüre ich immer wieder, in den kleinen Momenten des Alltags. All das sind kleine „Verabredungen“ mit euch, ohne dass wir uns wirklich sehen. 

Unsere kleinen Momente

Da bist du. Jedes Mal, wenn vor mir im Café jemand einen „Americano“ bestellt und ich direkt daran denke, dass du ihn auch so trinkst. Wenn ich auf der Straße mal wieder ein Auto sehe, das dieselbe Farbe hat wie deins. Dann muss ich kurz schmunzeln, weil ich dich immer ein bisschen damit aufgezogen habe, dass du dir diese Farbe ausgesucht hast. Vor allem sind da aber die Momente, in denen du da bist, weil du nicht da bist. Wenn ich dich um Rat fragen möchte, weil du immer so ein guter Kritiker bist und genau die richtigen Fragen stellst. Oder wenn mir etwas Schönes passiert, bei dem ich weiß, dass du dich so ehrlich mit mir freuen würdest, als wäre es dein eigener Erfolg. Dann ist da eine Wehmut in mir, aber vor allem ganz viel Wärme. Ich denke an dich mit einem wohligen Gefühl, denn ich weiß, dass dieses Band zwischen uns immer irgendwie bleiben wird. Es hat nur seine Form verändert.

Und da bist du. Jedes Mal, wenn ich in meinem Kochbuch nach deinem Rezept suche und später stolz meine Lasagne aus dem Ofen ziehe. Wenn ich ein neues Lied entdecke, bei dem ich ganz genau weiß, dass es dir gefallen würde. Oder wenn wir im Herbst die Äpfel im Garten ernten und ich einen kurzen Moment daran denke, dass sie dir immer besonders gut geschmeckt haben, weil sie nicht so süß sind, wie die meisten Äpfel aus dem Supermarkt. Genau das sind die kleinen Dinge, die Details, die man im Laufe der Zeit über den anderen lernt und die man irgendwie auch nicht mehr verlernen kann. Aber das will ich eigentlich auch gar nicht, denn sie sind gleichzeitig auch kostbare Erinnerungen an Zeiten, über die ich sehr froh bin. Und vielleicht liest du das hier ja sogar, ich weiß ja genau, dass du ganz schön neugierig sein kannst. Dann nimm das hier als einen lieben Gruß aus der Ferne. 

Oder da bist du. Jedes Mal, wenn zufällig wieder dieses eine Lied in meiner Playlist kommt. Dann erinnere ich mich daran, wie du es mir auf dieser Autofahrt voller Leichtigkeit gezeigt hast. Wir sind in der Septemberluft durch all die kleinen süßen Orte gefahren, auf dem Weg zum Weingut. Deshalb hat das Lied für mich einen festen Platz dort in meiner Playlist. Ganz selbstverständlich, obwohl ich es meistens überhaupt nicht höre, weil es eigentlich mehr Erinnerung als Musik für mich ist. Dann denke ich an dich und deine Lebenslust. Aber auch an all das, was ich durch dich über mich selbst gelernt habe. Du warst mein Wegbereiter, auch wenn du von all dem gar nichts weißt. Ich konnte dir ja nie davon erzählen. Aber gerade, weil ich ohne dich weitergehen musste, bin ich irgendwann bei mir selbst angekommen. Und das war das Beste was mir passieren konnte.  

Meine Jahresringe

Die Welt will uns so oft glauben machen, dass Beziehungen nur dann wichtig und wertvoll sind, wenn man den ganzen Weg zusammen geht. Wenn man sie alle um jeden Preis festhält, als würde man dafür am Ende eine Medaille bekommen, weil man sich durchgekämpft hat. Und wenn das nicht schon von vorne herein reibungslos klappt, dann muss es zumindest später auf ein „Happy End“ hinauslaufen. Doch vielleicht war dieser Abschied wirklich ein Abschied für immer und unsere Wege treffen sich nie wieder? Vielleicht war die Zeit, die wir miteinander hatten, im Vergleich mit einem ganzen Leben viel zu kurz? Aber deshalb ist das, was wir hatten, doch nicht weniger wert! Genau daran haben meine Freundin und ich uns an der Waldlichtung mal wieder erinnert. Denn all diese kleinen „Verabredungen“ im Alltag zeigen uns jedes Mals aufs Neue, wie viel die Wärme und vor allem Dankbarkeit da noch immer sind – auch wenn sie sich manchmal mit einer Portion Melancholie und Traurigkeit mischen. Und trotzdem sind diese Gefühle gut so, wie sie sind. Wir müssen sie nicht verändern, sie verdrängen, oder wieder irgendetwas aus ihnen formen. Sie erfüllen ihren Sinn von ganz alleine, indem sie uns zeigen, wie wertvoll die Zeit mit unseren Wegbegleiterinnen und -begleitern war. Sie zeigen, wie sie uns über all die Jahre geprägt, begleitet und gestärkt haben. Und wieso jeder von ihnen einen ganz festen Platz in unserer Geschichte hat. Denn ihr seid nicht nur die Maserungen in der Baumrinde, die ihre Spuren in uns hinterlassen haben und sich immer mal wieder zeigen. Ihr seid auch unsere Jahresringe, denn ohne euch würden wir heute nicht so fest und stark stehen, wie wir es tun. 

Foto: Jana Rodenbusch