Die Spaziergängerin

Ich ging alleine nach draußen für einen kurzen Spaziergang und bliebt doch, bis die Sonne unterging. Denn hinauszugehen, so fand ich heraus, bedeutet eigentlich, hineinzugehen.

John Muir

Ich habe schon viele Texte über meine Zeit in der Natur und meine Spaziergänge geschrieben. Mal waren sie länger, manchmal auch bloß ganz kurze Gedankenschnipsel. Doch alle diese Texte habe ich nur auf meinem Instagram Kanal geteilt – hier auf meinem Blog, da habe ich noch nie wirklich darüber geschrieben. Wahrscheinlich, weil es ein wichtiges Thema für mich ist und ich darüber nicht nur einfach so schreiben wollte. Nein, wenn dann soll es auch ein ganz besonderer Beitrag werden, damit er alles ausdrücken kann, was ich fühle. Und das wird jetzt dieser Beitrag hier. Denn ich habe gemerkt, wie mir immer mehr Ideen in den Kopf gekommen sind, fast so als hätte sich der Beitrag mir förmlich aufdrängen wollen. Und ich habe versucht, ihn ein bisschen nach hinten hinauszögern, um noch mehr Ideen zu sammeln. Aber auf einmal habe ich mir gedacht: Ja warum eigentlich nicht? Dann machen wir das doch. Und je mehr ich mich mit dem Gedanken angefreundet habe, desto klarer wusste ich: Es ist jetzt sogar ein wirklich guter Zeitpunkt für diesen Beitrag, denn ich glaube, dass der „gute Ruf“ von Spaziergängen im Moment sehr auf der Kippe steht. Es ist wie ein zu erwartendes Tief, nach dem extremen Aufschwung, den sie im letzten Jahr erlebt haben. Die gemeinsamen Fußwege waren und sind noch immer fast die einzige Möglichkeit, etwas mit anderen zu unternehmen – deshalb sind 2020 wahrscheinlich so viele Menschen wie noch nie spazieren gegangen. Und dabei gab es mit Sicherheit einige, die gemerkt haben, wie gut ihnen die Zeit in der Natur und die Bewegung tun. Aber mit all der Zeit und den vielen gelaufenen Kilometern, haben die Spaziergänge einen faden Beigeschmack bekommen, ganz nach dem Motto: „Och ne, nicht schon wieder“. Nicht weil die Runden um den Block oder durch den Wald nicht doch irgendwie guttun, sondern weil man zusätzlich einfach gerne mal etwas anderes unternehmen würde. Und das kann ich gut verstehen, denn auch wenn ich eine richtige Spaziergängerin bin, geht es sogar mir inzwischen oft ähnlich. Doch gerade deshalb ist es mir so wichtig, dem Ganzen nochmal einen neuen Anstrich zu geben und nicht nur mich, sondern uns alle daran zu erinnern, was Spaziergänge für eine Kraft haben. Denn ich weiß ganz sicher, dass ich ohne sie heute nicht da wäre, wo ich bin. Das hört sich vielleicht etwas kitschig und auf den ersten Blick übertrieben an, aber es ist tatsächlich genauso. All die Wege, die ich in den letzten Jahren alleine gelaufen bin, haben mich immer zu mir selbst zurückgebracht und mir dabei geholfen, all die kleinen und großen Dinge um mich herum klarer zu sehen. Gerade in Zeiten, in denen ich sehr mit mir selbst zu kämpfen hatte, waren sie wie Balsam für meine Seele. Und das sind sie heute noch, immer und immer wieder. 

Das Lagerfeuer in mir

Damit meine Spaziergänge mir genau diese Kraft überhaupt erst geben können, bin ich tatsächlich am liebsten ganz alleine unterwegs. Ich weiß, das hört sich für viele vielleicht erst einmal langweilig an. Am Anfang hat es sich das auch für mich. Alleine Spazieren gehen? Das macht man nur, wenn es nicht anders geht. Wenn man einen Hund hat und gezwungenermaßen mehrmals am Tag raus muss. Oder wenn man joggen geht. Aber ansonsten macht man das doch mit anderen zusammen. Bei einem Sonntagsspaziergang mit der Familie, oder der Freundesgruppe. Aber ganz alleine? Da hat in meinen Augen irgendwie immer etwas gefehlt. Und das tut es natürlich in gewisser Weise, denn solange ich mit anderen spazieren gehe, bin ich in diesen Momenten mit meinem Gegenüber verbunden. Es geht um unsere Beziehung, unsere Gespräche und Gefühle. Und das fällt natürlich weg, sobald mich niemand begleitet. Doch auch wenn ich das selbst nie gedacht hätte, habe ich mit der Zeit gemerkt: Es fehlt trotzdem nichts, obwohl ich ja eigentlich „nur“ alleine zu Fuß unterwegs bin. Eine Verbindung habe ich nämlich noch immer, sie verändert sich lediglich. Ich bin dann nicht mehr länger mit einer anderen Person verbunden, doch dafür ist da diese richtig tiefe Verbindung mit der Natur – aber vor allem mit mir selbst. Und die finde ich eben gerade alleine, wenn nichts und niemand um mich herum ist. Keine anderen Personen, keine Reize, Nachrichten, Autos, oder Geschäfte, die meine Aufmerksamkeit suchen. Es ist einfach mal Sendepause. Und erst durch sie ist da auf einmal diese angenehme Leere in mir, die so friedlich und ruhig ist. Es fühlt sich an, als wäre ich ganz nah bei mir selbst. Ich bin nicht mehr die Freundin, Tochter, Auszubildende, oder die Bloggerin. Dann bin ich einfach nur Anna. So wie ich ganz im Kern von mir bin. Und das heißt nicht, dass ich diese anderen Teile von mir nicht mag, ich bin all das auch gerne. Doch das bin eben ich, in Kontakt mit anderen Menschen. Sobald ich aber spaziere, ist da ein Teil von mir, den wahrscheinlich kaum je andere zu sehen bekommen werden. Den sehe nur ich. Das bin ich, wenn ich ganz alleine und für mich bin. Und das ist eine Art von Intimität mit mir selbst, die sich richtig wohlig anfühlt. Dieser Teil von mir ist alleine für mich da. Er ist wie ein Ort in mir, an dem ich auftanken und an dem meine Seele zur Ruhe kommen kann. Wie ein kleines Lagerfeuer, das immer bereit ist, damit ich mich an ihm wärmen kann, wenn ich es brauche. Dort kann ich einfach nur sitzen und es mir gut gehen lassen. Ich brauche dort keine Worte, denn hier geht es nicht darum etwas zu produzieren oder zu machen. Hier geht es einzig und allein um die Ruhe, die ich brauche, um mir selbst nahe zu sein. Um zu erkennen, was ich brauche. Wonach ich mich in meinem Leben sehne, was ich denke und fühle. Weil ich mich bei diesen kleinen Verabredungen mit mir selbst jedes Mal ein bisschen besser und manchmal sogar neu kennenlerne. Denn wie John Muir schon gesagt hat: Hinauszugehen bedeutet eigentlich hineinzugehen. Und nach dieser Zeit an meinem inneren Lagerfeuer, kann ich eben auch wieder gestärkt in die Welt da draußen hinausgehen. 

Wenn meine Kanäle offen sind

Wenn ich laufe, dann werde ich nicht nur ganz leer, sondern vor allem auch frei. Auf einmal ist da all dieser Raum in mir und ich habe so viel neuen Platz. Manchmal fühle ich mich ein bisschen wie ein leeres Gefäß, das oben weit offen ist und in das viel hineingefüllt werden kann. Also vielleicht wie ein Kelch? Deshalb passiert es oft, dass ich gerade bei meinen Spaziergängen viele Ideen und Einfälle habe, obwohl ich eigentlich gar nicht nach ihnen suche oder irgendetwas Bestimmtes mache. Sie kommen einfach wie von selbst. So richtig bewusst geworden ist mir das nochmal, als ich letztens einen Artikel über die Dichterin Mary Oliver gelesen habe. Sie soll auf ihren liebsten Fußwegen in der Natur ihre Schreibsachen in Einkerbungen von Bäumen versteckt haben – für den Fall, dass sie beim Spazieren ein paar gute Ideen und Gedanken bekam, die sie unbedingt behalten wollte. Und das habe ich total gefühlt. Denn ich wusste genau: Wenn ich nicht im Zeitalter der Handys leben würde, wäre das eins zu eins ich gewesen. Mir passiert es immer wieder, dass mir während des Laufens auf einmal ganz viele Ideen in den Kopf kommen und ich denke: Das ist gerade so gut. Dann muss ich kurz stehenblieben, um mir meine Gedankenblitze in meiner Notizen App aufzuschreiben. Es ist fast so, als wären alle meine Kanäle offen. Und mein Kelch, der wird fast schon automatisch gefüllt. Genauso war es zum Beispiel auch vor ein paar Tagen, als ich nach einem langen Tag vor dem Laptop in den Wald gegangen bin, um meinen Kopf mal wieder richtig durchzulüften. Ich gehe immer verschiedene Routen, je nachdem was ich gerade brauche. Da gibt es zum Beispiel meine tägliche Runde, die mir dabei hilft, langsam in den Tag zu starten und bei mir anzukommen, bevor der Alltag losgeht. Aber an diesem Nachmittag wusste ich: Die kurze Strecke reicht gerade nicht, jetzt brauch ich die ganz große Waldrunde. Die gehe ich nicht sehr oft, aber manchmal gibt es Tage, an denen ist sie genau das, was mir fehlt. Ich gehe dann so lange, dass ich gar nicht erst flüchten kann und quasi bei mir bleiben muss. Damit ich genug Zeit habe, um auch wirklich bei mir anzukommen und mein Lagerfeuer überhaupt erst finden zu können. Das sind meistens die Tage, an denen ich selbst schon merke, wie verstopft ich mich fühle. Als hätte sich ein kleiner Nebel um meinen Kopf gelegt und ich kann gar nicht mehr klarsehen. Doch mit jedem Schritt, den ich laufe, lichtet sich der Schleier um mich herum und ich kann wieder klarer sehen. Und genau war an diesem Nachmittag während meiner großen Waldrunde der Moment, in dem ich wusste: Jetzt schreibe ich diesen Text hier – und auch wenn ich normalerweise am liebsten alleine spazieren gehe, habe ich euch so doch irgendwie mitnehmen können auf meine kleinen Reisen zu mir selbst.