Ich sehe was, was du nicht siehst

Man kann sich die Abenteuer, für die man gemacht ist, nicht immer aussuchen.

Aus dem Buch „Was man von hier aus sehen kann“ von Mariana Leky

In meinem ersten Beitrag habe ich euch davon erzählt, wie ich zur Astronautin wurde und wie mein Leben durch meine Panikattacken ganz schön auf den Kopf gestellt wurde. Ich habe einiges durch diese Zeit gelernt und sie war definitiv der Weckruf, den ich damals dringend gebraucht habe. Und so hat diese Phase natürlich auch viele große Fragen mit sich gebracht – darüber wie ich mein Leben lebe und wer ich wirklich bin, unter all den Schichten und Masken, die ich lange getragen habe. Genau auf diesem Weg durch diese Fragen möchte ich euch jetzt weiter mitnehmen und euch davon erzählen, welche Antworten ich für mich gefunden habe. Eine der größten Einsichten, mit der ich heute beginnen möchte, war die, dass ich doch die bin, die ich als Teenager auf keinen Fall mehr sein wollte: Das Sensibelchen. Ich war schon als Kind immer empfindlicher und feinfühliger als Gleichaltrige. So war ich die, die wegen Heimweh von der Klassenfahrt abgeholt werden musste und auch die, die es nicht mochte, auf wilde Geburtstage in Spieleparks oder in Kletterhallen zu gehen, bei denen es laut und wuselig war – obwohl die meisten Kinder so etwas lieben. Schon immer habe ich länger gebraucht, um mich an Neues zu gewöhnen und habe irgendwie sehr viel gefühlt – besonders natürlich eines: Angst. Ich habe deshalb oft gedacht, dass ich komisch bin und durch meine Art eine Belastung für andere darstelle. Als würde ich mich zu sehr anstellen und müsste mich nur mal etwas zusammenreißen nach dem Motto „Andere schaffen das ja auch“. Doch als Kind konnte ich all das einfach nicht kontrollieren und habe deshalb alles rausgelassen, auch wenn ich mich oft dafür geschämt habe. Und auf einmal war diese Hochsensibilität wieder da, nachdem ich all die Jahre sehr viel Arbeit darein gesteckt hatte, bloß nicht mehr so sein zu müssen. Ich dachte immer, das war halt nur in meiner Kindheit so, aber jetzt bin ich älter und kann mir selbst aussuchen, wer ich sein möchte. Und das mag stimmen, wenn es um alte Verhaltensmuster oder Angewohnheiten geht, die man mit der Zeit ablegen und ändern kann. Aber mein ganzes Wesen, das kann ich nicht einfach austauschen, als wäre es eine Haarfarbe oder ein Paar Schuhe. Doch ich habe lange Zeit mein Bestes gegeben, um es zumindest zu versuchen.

Gefangen im Schutzpanzer 

Angefangen hat dieser Versuch in der Schulzeit, als ich älter und der Vergleich mit anderen immer mehr zum Alltag wurde. Ich wollte auch das machen können, was die anderen in meinem Alter machen, ich wollte mehr erleben und einfach das haben, was sie haben – dieses Leichte und Unbeschwerte. Alles machen zu können, ohne ständig an die eigenen Grenzen zu kommen. Und mit der Zeit habe ich gemerkt, dass ich genau das haben kann, denn mir wurde bewusst, dass ich mich eben doch zusammenreißen kann, wenn es dringend notwendig ist – und das war es für mich, ich wollte schließlich dazugehören. Also habe ich begonnen meine Sensibilität mit allen Mitteln von mir wegzuschieben und habe mich immer mehr angepasst. Dass sowas nur für eine bestimmte Zeit funktionieren kann und all die Gefühle und Wahrnehmungen nicht einfach weg sind, sondern stattdessen tief in mir drinnen schlummern und nur auf ihre Chance warten, endlich rauskommen zu können, das war mir nicht bewusst. Und es hätte mich damals vermutlich auch nicht besonders interessiert, denn der Panzer, den ich mir gebaut habe, hat mir immerhin den gewünschten Erfolg gebracht: In dieser Zeit hat mir fast nichts etwas ausgemacht. Ich habe es geliebt in Großstädten zu sein, je mehr los war desto besser. Partys mit vielen Menschen waren für mich total normal. Wenn ich daran zurückdenke auf welchen überfüllten Plätzen ich an Karneval schon war, kriege ich sogar im Nachhinein noch ein beklemmendes Gefühl. Aber damals wäre es für mich gar nicht in Frage gekommen, dass ich das mal nicht mehr aushalten könnte. Ich mochte es, wenn alles möglichst abwechslungsreich ist und ich viel unternehmen konnte. Damit habe ich zu der Zeit nicht nur die ganzen Reize von mir geschoben, sondern es sind natürlich genauso alle unangenehmen Gefühle und Gedanken halbwegs an mir abgeprallt, die ich nicht haben wollte. So war ich stumpfer, aber dadurch eben auch weniger weich. Ich habe mich sicher gefühlt und mich vor großen Verletzungen geschützt, doch irgendwie habe ich mich gleichzeitig immer nach mehr gesehnt, ich wollte tiefer fühlen und echte Verbindungen mit anderen Menschen. Nur konnte ich das gar nicht erst zulassen, denn all diese Gefühle hätten für mich quasi wieder Gefahr bedeutet. Sie hätten meinen Schutzpanzer ins Wanken bringen können und das war mir zu heikel. Also habe ich mir lieber eine weitere Herausforderung gesucht, bei der ich etwas erleben konnte. Und das hieß dann vor zwei Jahren für mich ein Auslandssemester machen, obwohl mir mein Gefühl irgendwie schon damals gesagt hat, dass das weder das ist was zu mir passt, noch das ist was ich wirklich will. Aber ich habe einfach immer weitergemacht und mich zusammengerissen, bis es irgendwann nicht mehr ging und mir die Panikattacken auf die harte Tour gesagt haben: Bis hier hin und nicht weiter, du schadest dir so nur selbst und lebst vollkommen gegen dein Wesen. Also hör endlich auf gegen dich selbst zu kämpfen und es dir so schwer zu machen. Und genau diese Einsicht hat mich dann endlich doch noch dazu bringen können, meinen Schutzpanzer abzulegen – für mich.  

Die Ruhe in mir

Seit ich mich damals geöffnet habe, ist der Weg wieder frei. Die Dämme geflutet sozusagen. Und natürlich nehme ich so wieder viel mehr wahr und fühle eine ganze Menge. Ich bin wieder weicher geworden und kann mich nicht nur mit mir selbst, sondern auch mit anderen wieder wirklich verbunden fühlen. Dann fühlt es sich warm an in mir und irgendwie stimmt alles, weil ich dann ganz bei mir bin. Es ist einfach leicht und unbeschwert, denn ich muss gar nichts dafür tun. Ich bin nicht mehr so getrieben wie früher, weil ich ständig damit beschäftigt bin, Dinge wegzudrücken. Stattdessen kann ich auch mal stehenbleiben, um Luft zu holen. Und das fühlt sich richtig gut an, denn diese Ruhe hilft mir außerdem besser mit der anderen, oft unbequemen Seite, umzugehen, die die Hochsensibilität mit sich bringt. Eben genau die, die ich früher nicht mehr haben und unterdrücken wollte. So bin ich in den letzten Jahren nämlich nicht nur weicher geworden, sondern ich reagiere auch wieder schneller auf äußere Reize: Ich mag es heute nicht mehr in großen Menschenmassen zu sein. Volle Plätze, laute Clubs, U-Bahn fahren – all das strengt mich nur noch an und macht mich nervös. Ich fühle mich dann immer so klein, als würden all die Reize gleichzeitig auf mich einprasseln und ich weiß nicht, wie ich das verhindern kann. Es ist ein Gefühl von Ohnmacht. Gefolgt von dem Wunsch einfach nur weg zu können und meine Ruhe zu haben, an einem Ort, an dem ich die Reize halbwegs selbst beeinflussen kann. Darum fordern mich Treffen in großen Gruppen und zu viele soziale Interaktionen meist sehr. Hier sind die Reize zwar andere, aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich all das, was die anderen Menschen mitbringen an Emotionen, Launen und Geschichten, ungefiltert in mich aufnehme. Oft kann es deshalb auch passieren, dass ich zu empathisch bin, weil ich mir die Probleme anderer sehr zu Herzen nehme und sie schnell zu meinen eigenen mache. Um nach Tagen, an denen zu viele solcher Eindrücke und Gefühle auf mich eingeprasselt sind, wieder bei mir selbst anzukommen, brauche ich darum erst einmal extrem viel Ruhe und Rückzug, weshalb ich auch nicht wie andere direkt weitermachen kann. Und heute weiß ich, dass es okay ist, dass ich diese Pausen benötige. Ich habe gelernt, dass ich all diese äußeren Einflüsse einfach viel intensiver wahrnehme und verarbeite als andere, während ich früher immer dachte, das wäre bei jedem so, nur ich wäre diejenige, die falsch damit umgeht. Es fühlt sich ein bisschen so an, als würde ich auf dem Times Square „Ich sehe was, was du nicht siehst“ spielen und mich darüber ärgern, wieso es mir hier schwerer fällt die Lösung zu finden, als zuhause in meinem Zimmer. Doch es liegt eben nicht daran, dass ich zu schlecht für das Spiel bin, sondern die Voraussetzungen sind in dem Fall einfach ganz andere. Und genau das ist extrem wichtig für alle, denen es manchmal vielleicht genauso geht. Denn dieses Mitgefühl und Verständnis sich selbst erst einmal entgegen zu bringen, ist nicht leicht und dauert meistens eine ganze Weile. Aber es ist der erste wichtige Schritt, um zu lernen, in sich zu vertrauen und bewusst entscheiden zu können, was man machen kann und was einfach zu viel ist. Dadurch bin ich all den Reizen zumindest nicht mehr in dem Maße ausgeliefert, wie ich es als Kind oft noch war. Was das für einen riesigen Unterschied macht, meine eigenen Grenzen kennenzulernen, ist mir dadurch erst bewusst geworden. Auch ich bin noch immer dabei auszuprobieren, was für mich funktioniert und was nicht. Wie oft ich Zugeständnisse für andere machen kann und wie oft ich über meine Grenzen gehen kann, ohne dass es mich direkt wieder aus der Bahn wirft. All das lerne ich noch und werde es vermutlich immer weiter lernen. Nur ich weiß heute, dass meine Gesundheit – sowohl körperlich als auch psychisch – ein zu hoher Preis ist, den ich nicht mehr zahlen will. 

Meine persönliche Superkraft

Doch obwohl ich all das eigentlich weiß, gibt es zwischendurch trotzdem immer mal wieder Phasen, in denen ich mich zu sehr mit anderen vergleiche und es sich dann so anfühlt, als wäre ich mit der schnellen Welt da draußen nicht kompatibel, irgendwie zu schwach. Gerade wenn ich sehe, wie Menschen in meinem Umfeld so viel unternehmen können, ohne dabei Schwierigkeiten zu haben. Sie können den ganzen Tag lang unterwegs sein, sich mit so vielen verschiedenen Menschen treffen und all das scheint ihnen gar nichts auszumachen. Wenn ich das zu nah an mich heranlasse, werde ich manchmal ein bisschen wehmütig, weil ich irgendwie Angst habe, etwas vom Leben zu verpassen durch meinen gezwungenermaßen eher ruhigen Lebensstil. Mir ist genau dazu letztens ein Satz von der Autorin Mariana Leky im Kopf geblieben, der mich sehr berührt hat: „Man kann sich die Abenteuer, für die man gemacht ist, nicht immer aussuchen.“ Genau das ist es, was wir uns allein solchen Momenten immer wieder bewusst machen sollten. Jeder Mensch hat seinen eigenen Weg und deshalb können und dürfen wir uns einfach nicht mit anderen vergleichen. Und auch wenn solche inneren Kämpfe mit meiner Sensibilität – genau wie früher – immer mal wieder aufkommen, gibt es heute trotzdem einen großen Unterschied: Ich sehe die guten Seiten viel mehr und die meiste Zeit überwiegen sie sogar. Wenn ich nämlich in solchen Momenten nur bei mir selbst bleibe, dann weiß ich, dass genau das mein Weg ist und er sich einfach stimmig anfühlt. Ich habe inzwischen für mich herausgefunden, dass ich beruflich gerne Menschen auf ihrem Weg zu sich selbst begleiten und ihnen bei seelischen Problemen und Krisen den Raum geben möchte, zu heilen. Und genau dafür brauche ich meine hohe Sensibilität und Feinfühligkeit, denn sie ist für mich meine ganz persönliche Superkraft. Durch sie spüre ich direkt, wie es den Menschen um mich herum geht. Ob mir jemand etwas erzählt, weil es wirklich aus ihm kommt, oder die Person sich gerade nur versucht selbst darzustellen. Ich merke, wann es wichtig ist Raum zu geben und einfach nur da zu sein und zuzuhören. Oder wo ein wunder Punkt ist, bei dem ich nachhaken sollte. All das könnte ich nicht ohne meine Sensibilität. Und selbst wenn es definitiv nicht die Eigenschaft ist, die ich mir auf den ersten Blick für mich ausgesucht hätte, würde ich meine Sensibilität nie mehr eintauschen gegen mein „altes“ Leben.